Let's talk Oral Health: Zahnmedizin bei besonderen Bedürfnissen und Risikogruppen
In den vorangegangenen Folgen dieser Webinarreihe wurde deutlich, dass jede zahnmedizinische Fachrichtung mit einer ganz eigenen Patienten-Gruppe zu tun hat - und jede stellt ganz eigene Anforderungen an die häusliche Zahnpflege. Es gibt jedoch ein Gebiet, das diese besonderen Herausforderungen verbindet: die Zahnmedizin bei Patient:innen mit einer körperlichen, sensorischen, intellektuellen, geistigen, medizinischen, emotionalen oder sozialen Beeinträchtigung bzw. Behinderung oder auch einer Kombination mehrerer dieser Faktoren (vgl. Gallagher & Fiske, 2007).
Können wir Herausforderungen, Barrieren und Anforderungen identifizieren, die diese Gruppe trotz der Heterogenität eint? Wie können wir unsere Behandlung auf ein so breites Spektrum von Patient:innen abstimmen? Und wie geht man mit unvermeidlichen Rückschlägen um? Über diese Themen sprechen zwei Experten mit enormem Fachwissen zu diesem Thema: Anna Louise Tolan, RDH, FADIA und Prof. Mohit Kothari, BDS, MS, PhD.

Besondere Bedürfnisse: Definition und Segmentierung
In der modernen Medizin versuchen wir oft, unsere Behandlung auf die individuellen Bedürfnisse der Patient:innen anzupassen, und um dies zu erleichtern, teilen wir diese in Kategorien ein. Bei Patient:innen mit besonderen Bedürfnissen ist dies aufgrund der Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe besonders kompliziert. Dennoch teilt Dr. Kothari seine Patient:innen grob in zwei Gruppen ein: "Die eine Kategorie sind ältere Patient:innen, die ansonsten gesund sind, aber durch den Alterungsprozess körperlich und sozial beeinträchtigt sind und ihre alltäglichen Aktivitäten erschwert. Die andere Kategorie umfasst ältere Patient:innen, die Komorbiditäten wie kardiovaskuläre Störungen, Hirnverletzungen, Diabetes oder motorische und kognitive Beeinträchtigungen haben und die mehr Aufmerksamkeit benötigen, entweder durch eine Fachkraft in einem Krankenhaus oder zu Hause durch Ehepartner:in oder Betreuer:in". Frau Tolan kennt dies aus eigener Erfahrung; sie arbeitet seit 17 Jahren mit Patient:innen mit besonderen Bedürfnissen, sowohl in ihrer eigenen Klinik als auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen. "In meiner Praxis gibt es eine Mischung aus Patient:innen, die in der Gemeinschaft leben, und diejenigen die zu Hause wohnen. Einige benötigen sogenannte Mundgesundheitspläne (OHCP). Ein OHCP beschreibt - ähnlich wie ein Rezept - Dienstleistungen, die mit oder für Patient:innn erbracht werden müssen, von der Betreuung und Anleitung bis hin zur physischen Durchführung der Pflege und der Empfehlung von Produkten und Hilfsmitteln, die gekauft werden müssen. Der personenzentrierte Betreuungsansatz zeigt die Bedürfnisse, Überzeugungen und Vorlieben der Patient:innen auf und wird bei jedem Termin angepasst. Dr. Kothari stimmt dem zu: In Europa gibt es keine validierten Pläne für die Mundgesundheitspflege, aber der Ansatz besteht darin, einen OHCP nach den speziellen Bedürfnissen zu erstellen. Als Beispiel nennt er Parkinson-Patient:innen, die unter Geschicklichkeitsproblemen leiden und denen daher eine Zahnbürste mit einem großen Griff, weichen Borsten und einem kleinen Bürstenkopf empfohlen wird, um alle Bereiche im Mund besser zu erreichen. Darüber hinaus betont Dr. Kothari erneut, wie wichtig es ist, den Ehepartner oder Betreuer:innen aufzuklären, und gibt kleine, praktische Tipps, wie die Empfehlung der 2-Quadrat-Formel während der Anleitung (zweimal täglich zwei Minuten lang putzen) oder die Modifizierung des Zahnbürstengriffs, indem man einen Tennisball oder einen Fahrradlenkergriff darüberstülpt.
Besondere funktionale und psychosoziale Bedürfnisse
Während wir oben darüber diskutiert haben, wie Patient: innen mit besonderen Bedürfnissen auf Bevölkerungsebene kategorisiert werden können (z. B. in der Gemeinschaft wohnend oder zu Hause lebend), erlaubt das breite Spektrum der tatsächlichen besonderen Bedürfnisse auch eine Kategorisierung auf Patient:innnebene. Frau Tolan unterscheidet zum Beispiel zwischen funktionellen und psychosozialen Aspekten. Bei den funktionalen Aspekten geht es zum Beispiel um Menschen und/oder deren Betreuer:innen, die nicht in der Lage sind, sich die Zähne richtig zu putzen: "In diesem Fall versuchen wir, über den Tellerrand zu schauen und Belohnungssysteme mit Sternen einzubauen, jemanden dazu zu bringen, ein Mittel zu verwenden, um das Gewebe und die Speichelproduktion zu stimulieren, zusätzliche Hilfsmittel einzusetzen, um Mundpflegeutensilien korrekt anwenden zu können, usw." Zu einem funktionellen Problem kann auch ein psychosoziales Problem hinzukommen, das für Patient:innn sehr einschränkend ist: "Es kann an früheren Erfahrungen liegen, an jeglicher Art von Angst vor der Pflege oder daran, dass Patient:innn sich schämen, weil sie die Reinigung nicht selbst durchführen können. Machen Sie ihnen also klar, dass wir nicht hier sind, um zu urteilen, sondern um ihnen zu helfen. Seien Sie einfühlsam und versuchen Sie zu verstehen, woher die früheren Erfahrungen stammen. Frau Tolan fährt fort: "Ich verwende gerne das Show-Tell-Do Konzept, weil wir diese Angst abbauen und Vertrauen aufbauen müssen. Zum Beispiel, indem wir zeigen, wie die Absauganlage funktioniert, die verschiedenen Geräusche der Geräte demonstrieren und erklären, was diese Geräusche auslösen, bevor wir diese tatsächlich anwenden.
Angst und Befürchtungen
Wie bereits oben erwähnt, treten Angst und Furcht bei Patient:innen mit besonderen Bedürfnissen recht häufig auf und können sie einschränken. Dr. Kothari erklärt, dass Zahnarztangst sehr verbreitet ist und jeden treffen kann. Der Begriff wird im Allgemeinen verwendet, um Gefühle des Unbehagens, der Angst oder des Stresses vor oder während eines Zahnarzttermins zu beschreiben. Sie kann auf eine Vielzahl von Faktoren zurückgeführt werden:
- Die zahnärztliche Umgebung, die Stress auslöst, wie z. B. die Angst vor Spritzen
- Das wahrgenommene Fehlen von Kontrolle während eines Zahnarzttermins kann ebenfalls Unbehagen verursachen.
- Selbstverurteilung: Verzögerte Zahnarztbesuche, manchmal aufgrund finanzieller Engpässe, machen die Betroffenen ängstlich. Sie fühlen sich möglicherweise wegen ihrer Mundgesundheit verunsichert.
Symptome der Zahnarztangst sind zum Beispiel eine erhöhte Herzfrequenz und Schweißausbrüche, und sie kann dazu führen, dass Termine verschoben oder ganz ausgelassen werden. Die Dentalphobie ist schwerwiegender als die Zahnarztangst, kommt allerdings auch seltener vor. Bei dieser Erkrankung sind die Betroffenen von dem Gedanken an einen Zahnarztbesuch völlig überwältigt und verängstigt. Die Betroffenen vermeiden es, einen Termin zu vereinbaren, bis sie ein schmerzhaftes Problem haben, oder sie gehen überhaupt nicht zum Zahnarzt. Die gleichen Faktoren, die Zahnarztangst auslösen, können auch eine Zahnarztphobie verursachen, z. B. schlechte Erfahrungen. In vielen Fällen wissen Menschen mit Zahnarztphobie, dass ihre Angst irrational ist. Dennoch fällt es ihnen schwer, sich ihren panischen Gefühlen zu stellen und sie ohne Hilfe zu überwinden. Wie kann man diesen Patient:innen also helfen? Neben Fortbildung und Gesprächen hat Dr. Kothari einen besonderen Ansatz für seine Patient:innen: "Wir gehen nie direkt in den Mund der Patient:innen, sondern beginnen immer mit einer Handberührung, denn die sensorische Stimulation geht immer von der Hand aus. Die Berührung wird als etwas sehr Beruhigendes empfunden und man kann die Reaktion in den Augen der Patient:in gut sehen, denn sie hilft sich wohlzufühlen. Und dann geht man zur Mundhöhle über und beginnt mit den Lippen.
Sinne und Gefühle
Das Beispiel der Handberührung verdeutlicht, wie wichtig es ist, auf die Sinne und Emotionen der Patient:innen , insbesondere bei denen mit besonderen Bedürfnissen einzugehen und diese zu nutzen wie Frau Tolan erklärt:
- Was sehen wir? Achten Sie darauf, dass alles ordentlich aufgeräumt und vereinfacht aussieht, und verfolgen Sie jedes Mal das gleiche Schema, um Überforderungssituationen zu vermeiden. Bei Lichtempfindlichkeit, Kopfschmerzen oder eine Migräneneigung vorliegt, dimmen Sie das Licht in Ihrer Praxis und verwenden Sie nur die Beleuchtung Ihrer Lupenbrille. Um zu vermeiden, dass sich im Wartezimmer Ängste aufbauen, sollten Sie außerdem sicherstellen, dass Behandlungstermine genau eingehalten werden.
- Wie riechen wir? Riechen die Behandlungsräume nach Zahnarztpraxis oder nach Keksen? In ihrer Zahnarztpraxis werden praktisch jeden Tag Kekse gebacken, nicht nur wegen des Geruchs, sondern auch, um sie nach der Behandlung als Belohnung anzubieten.
- Wie schmeckt es? Welchen Geschmack mögen Patient:innen, was ist für sie normal, wenn man z. B. an Mundtrockenheit denkt.
- Was hören wir? Zum Beispiel kann das Geräusch eines Hochgeschwindigkeits-Handstücks Traumata aus früheren Erfahrungen hervorrufen. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, Kopfhörer aufzusetzen, die Lieblingssendung im Fernsehen zu sehen oder die Lieblingsmusik zu hören, um sich zu entspannen.
- Was fühlen wir? Verwenden Sie eine Decke oder sogar die Bleischürze, um zu beruhigen und Ängste zu vermeiden.
Manche Patient:innen neigen zu Klaustrophobie - in diesem Fall kann es hilfreich sein, die Tür zum Operationssaal zu öffnen oder offen zu lassen."
Frau Tolan betont, dass es unter solch schwierigen Umständen wichtig ist, eine Beziehung aufzubauen, indem man über den Tellerrand hinausblickt: "Ich habe Menschen in ihrem Auto, an einem Picknicktisch oder außerhalb der Zahnarztpraxis getroffen. Einfach nur, um eine Beziehung aufbauen zu können. Es ist wichtig zu erkennen, dass wir diese Art von Beziehungen langsam und sorgfältig aufbauen müssen, damit wir ihnen dann wirklich bei der Mundgesundheit helfen können."
Mundgesundheitsstatus von Patient:innen mit besonderen Bedürfnissen
Unter der Leitung eines interdisziplinären Teams machte sich Dr. Kothari daran, das Ausmaß und die Ursachen von Mundgesundheitsproblemen bei zweihundert Patient:innen mit Hirnverletzungen zu untersuchen: "Von diesen zweihundert Patient:innen hatten fast fünfzig Prozent sehr akute Probleme wie stark sichtbare Plaque und Blutungen bei der Sondierung, d. h. es lag eine Entzündung vor. Interessanterweise fanden wir aber auch eine Menge chronischer Probleme, wobei eines der Hauptprobleme eine schwere Parodontitis war."
Bei der retrospektiven Untersuchung einiger verhaltensbezogener und sozialer Merkmale der Bevölkerung fanden sie interessante Daten: "Alle Patient:innen kamen aus einem relativ niedrigen sozioökonomischen Umfeld, und 64 % von ihnen waren Raucher:innen oder Passivraucher:innen. Ähnlichkeiten zwischen Patient:innen mit Hirnverletzungen und Parodontitis-Patient:innen hinsichtlich des sozioökonomischen Status und biologischer Faktoren führten Dr. Kothari zu der interessanten Hypothese, dass die parodontale Gesundheit als prognostischer Marker für künftige Hirnverletzungen dienen könnte: "Wenn man im Alter von 20 bis 25 Jahren eine jährliche Kontrolluntersuchung durchführt und ein parodontales Problem feststellt, sollte man davon ausgehen, dass diese Person in der Zukunft einen Schlaganfall oder eine traumatische Verletzung erleiden könnte. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, eine gute Mundhygiene zu betreiben
Aber das war nicht die einzige oral-systemische Verbindung, die Dr. Kothari beobachtete: "50% Prozent der Patient:innen haben auch eine Schluckstörung, so dass die Nahrung nicht in den Magen gelangt, sondern stattdessen aspiriert und in die Lunge gelangen kann, was eine Lungenentzündung verursacht, die tödlich sein kann. Viele mikrobiologische Studien haben auch gezeigt, dass die Mikrobiota in unserer Lunge der oralen Mikrobiota sehr ähnlich ist." Höchstwahrscheinlich ist der Grund dieser Bevölkerungsgruppe eine Kombination aus schlechter Mundgesundheit, schlechter Kaufunktion und Schluckstörungen. Dr. Kothari erklärt weiter: "Parodontitis, der Biofilm, Blutungen bei der Sondierung, all das war mit einem langfristigen Krankenhausaufenthalt verbunden. Außerdem hatten jene Patient:innen, die eine Lungenentzündung hatten, eine schlechte Mundgesundheit in Verbindung mit sehr ernsten kognitiven und motorischen Problemen. Patient:innenmit besserer Mundgesundheit hatten dagegen bessere kognitive Fähigkeiten. Das heißt, sie können Sie besser verstehen und ihre Zähne besser putzen und ihre Mundhygiene verbessern. Und so hängt alles irgendwie zusammen, wie ein Teufelskreis".
Wie geht man mit Enttäuschungen und Rückschlägen um?
Die Arbeit mit Patient:innen mit besonderen Bedürfnissen kann sehr erfüllend sein, aber die unvermeidlichen Rückschläge können auch sehr frustrierend sein. Wie gehen die Sprecher:innen mit solchen Rückschlägen und Enttäuschungen um? Frau Tolan sagt in einfachen Worten: "Wir müssen uns vor Augen halten, dass es nur heute so ist und der nächste Tag besser sein wird. Ich versuche einfach, mich daran zu erinnern, dass wir mindestens einen hervorragende Sitzung pro Jahr bei diesen Spezialpatient:innen haben, die ich alle drei oder vier Monate sehe. Daher ist auch hier eine gute Dokumentation wichtig. Man muss auch aus früheren Erfahrungen lernen, wie dieses Beispiel von Frau Tolan zeigt: "Einmal haben wir eine autistische, nonverbalen Patientin in einen anderen Operationssaal gebracht; das war ein No-Go und es ist nicht gut gelaufen. Daraus müssen wir lernen." Eine der Herausforderungen, denen sich Dr. Kothari bei seinen Patient:innen mit Hirnverletzungen stellen muss, ist das Risiko, gebissen zu werden: "Manchmal möchte man einfach aufgeben. Nein, dieser Patient ist zu schwierig. Aber dann kommt der nächste Tag, und man macht weiter. Zur Prophylaxe haben wir jetzt Beißklötze oder Spatel, die wir in unserer Praxis häufig verwenden. Sicherlich wird es viele Rückschläge geben, aber wir müssen uns dem einfach stellen und weitermachen."
Let's Talk Oral Health ist eine Serie von Experten-Gesprächen. Diese spezielle Reihe konzentriert sich auf die häusliche Mundpflege aus verschiedenen Blickwinkeln. Entdecken Sie hier alle Webinare aus dieser Reihe: